Simen Tertres sah unwirsch von seinem Buch auf, das er seit Stunden studierte. Was war das denn wieder für ein Krach draußen im Treppenhaus? Wie sollte man sich denn da konzentrieren? Ungehalten stand er auf und riss die Tür seines Arbeitsraumes auf.
„He, was soll dieser Lärm?“, herrschte er den erstbesten der in blauen Roben gekleideten Magier an, der ihm unter die Augen kam.
„Habt ihr es noch nicht gehört, Meister Tertres?“
Der Angesprochene verschränkte die Arme vor der Brust und senkte den Blick. Die erfurchtsvolle Geste trug aber in keiner Weise dazu bei, Simens Unmut zu dämpfen. Im Gegenteil ärgerte er sich über die Gegenfrage anstelle einer Antwort. Und zudem machte es ihn ohnehin immer wütend, wenn es Informationen gab, die andere vor ihm erfuhren.
„Rede nicht in Rätseln!“, herrschte er seinen Gegenüber an. Dass dieser erschrocken zusammenzuckte, befriedigte Simen ein wenig.
„Was ist los?“
„Wir bekamen eine Botschaft vom Tempel. Von Incantat Dreadwolf persönlich.“
„Ja, und, weiter!“
Dieser impertinente Naseweis strapazierte Simens Geduld tatsächlich aufs Äußerste. Legte er es etwa darauf an, ihn, den stellvertretenden Sprecher des Magierrates zu ärgern?
„Meiterin Gilvi wurde getötet.“
„Was sagst du da? Wie? Wann?“
Simen konnte die Nachricht kaum glauben.
„Es heißt, Meisterin Gilvi war zu einer Besprechung mit Incantat Dreadwolf in der Burg.“
„Ja, doch. Das weiß doch jeder, dass die zwei ständig dort herumhängen, seit sie den König ermordet haben, und irgendwelche wichtigen politischen Pläne diskutieren. Beschränke dich auf die wichtigen Fakten!“
„Ähm, also“, der rangniedrigere Magier stockte und überlegte sichtlich eingeschüchtert, was er erzählen sollte. Schließlich platze er einfach heraus:
„Man sagt, Feinde drangen in die Burg ein, überraschten die beiden und erschlugen Meisterin Gilvi.“
„Und der Incantat?“
„Er zog sich in den Tempel zurück und organisiert die Jagd auf die Eindringlinge.“
Simen konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
„Das ist ja ausgezeichnet – dass der Incantat lebt und entschlossen handelt, meine ich“, ergänzte er rasch, als ihn der andere irritiert ansah, „der Tod von Maladete Gilvi ist natürlich eine Katastrophe, für uns alle und für mich als ihren Stellvertreter ganz besonders. Benachrichtige die anderen Ratsmitglieder. Wir müssen sofort eine Sondersitzung abhalten und über die Nachfolge entscheiden. Der Rat darf in dieser Krise nicht führungslos sein. Rasch, laufe!“
Der Untergebene drehte auf dem Absatz um und rannte den Flur entlang. Simen kehrte betont langsam in sein Zimmer zurück und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Erst dann gestattete er sich einen – kleinen – Freudenhüpfer und einen – leisen – Jubelschrei.
Eigentlich sollte er den Fremden dankbar sein. Endlich war er am Ziel. Seine Wahl zum neuen Sprecher war in dieser Lage bestimmt nur noch reine Formsache. Andererseits würde es auch diejenigen, die an seinem Führungsanspruch zweifelten – und davon gab es zu seinem Leidwesen nicht wenige – überzeugen, wenn er die Mörder Maladetes zur Stecke brachte. Er brauchte einen Plan.
Zunächst aber hatte seine persönliche Sicherheit oberste Priorität. Schließlich war er ab sofort der wichtigste Magier in Sigholm. Wo blieben nur die Harpyen-Söldner, die er zur Bewachung der Turmterrasse angefordert hatte?
„Nun denn, Lanzelot“, sein Vertrauter sah ihn vom Fensterbrett, auf dem er sich sonnte, aufmunternd an, verzichtete aber auf eine Bemerkung, „dann wollen wir mal sehen, welche Verbündeten wir uns besorgen könnten.“
Er legte einen Pergamentstreifen als Lesezeichen in sein Buch und klappte es lautstark zu. Dann zog er seine Sammlung von Beschwörungsformeln aus dem Regal und schlug sie an einer zufälligen Stelle auf. Leise pfiff er durch die Zähne, während er mit dem Zeigefinger auf eine Stelle tippte, die durch purpurne arkane Symbole vom Rest des Textes abgesetzt war…