Das Buch von Amun-Re, Band 1

Vers 1
Ich, Amun-Re, beginne selbst eine Aufzeichnung meiner Taten und Geschäfte in dieser Welt. Die Jahre blättern sich in meinem Geist zurück, wie Seiten eines Buches. In meiner Jugend gab es grüne und fruchtbare Felder, im ganzen Land blühten Blumen im Überfluss und sanfte Wälder erfüllten die Luft mit ihrem reinen Duft und Wohlbefinden.
Händler scheuten es nicht, ein Jahr oder länger mit ihren Wüstenschiffen zu reisen, bis sie unsere Oasen in den Grenzlanden erreichten, und sie boten höchste Preise für unsere süßen Parfums. Saftige Früchte und wohlschmeckendes Fleisch kamen von unseren Feldern und Weiden, während in der Stadt Terbakar die Webstühle feinste Wollstoffe schufen, die gut genug für Könige und Königinnen waren.
Vers 2
Der Fluss Athis war die Mutter des Landes, die mit ihrem Wasser Leben schenkte. Entspringend im Hof des alten Palastes, ließ Athis alles, was sie berührte, erblühen, sogar in den öden Grenzlanden, und sie verlieh ihren Kindern Stärke und Gesundheit. Mein Vater pflegte, sich mit mir neben die Quelle zu setzen, und er erzählte mir Geschichten über ihre wunderbare Macht und den Segen, den sie über das Land brachte, ein wahres Geschenk der Isis. Dort bei den strömenden Fluten der Athis, wurde meine Liebe zu meinem Vater stark, als wir spielten und lernten vom Leben und allem Lebenden.
Vers 3
Aber nicht nur von ihm allein wurde ich unterwiesen. Jeden Tag lehrten mir die Priester und weisen Männer die Regeln der Könige und des Himmels. Ich hörte vom Verscheiden der Könige und wie sie nach dem Tod in den Himmel des Westens reisten. Die Überfahrt machten sie in ihren Bestattungsbooten, sie segelten über den Fluss des Todes, bis sie das jenseitige Ufer erreichten. Dort wurden sie von Osiris, dem Gott der Toten, in ihre Herrschaftsgebiete eingelassen, entsprechend der Besitztümer, die sie mit sich brachten. Ich erfuhr auch von verschlagenen Menschen, deren Geist verdunkelt war, die die alten Bräuche vergessen hatten. Diese plünderten die Grabstätten und stahlen die Reichtümer, und beraubten die Toten damit ihres Platzes im Himmel des Westens. Als Junge weinte ich oft des Nachts über solche Gedanken – und die Furcht vor dem Gericht Osiris‘ nistete sich in meinem Herzen ein.
Vers 4
Mein Vater ließ sich eine Gruft bauen, um gegen derart Niedertracht gewappnet zu sein. Doch nur wenige Jahre nach meines Vaters Tod gab es Geflüster, dass sogar seine großartige Begräbnisstätte entweiht worden sei. Ich wurde von der Vorstellung, dass sein Geist auf ewig alleine herumwandern müsste, gepeinigt. Gehüllt in die Dunkelheit der tiefsten Nacht ging ich zu meines Vaters Grab. Kein Priester folgte mir, um meinen Eintritt in die Welt der Toten zu bezeugen. Ich schlüpfte vorsichtig an den Fallen vorüber, die den Weg schützten, als ich plötzlich auf seinen Sarkophag stieß.
Vers 5
Ich starrte durch tränende Augen auf die zerbrochenen Tonkrüge, die einst das Gold enthielten. Der vormals edelsteingeschmückte Rumpf meines Vaters Schiff war bloß und von Hieben gezeichnet. Ich wusste mit Sicherheit, dass er sich dem großen Osiris in dieser Verhöhnung eines Bootes nicht hatte nähern können, ohne auch nur ein einziges intaktes Tongefäß.
Vers 6
Aus Schwäche und Schrecken fiel auf meines Vaters Sarkophag und starrte sein von Hieben entstelltes Gesicht an. Es war einst mit dem reinsten Blattgold bedeckt gewesen. Sein goldener Herrscherstab konnte nirgends mehr gefunden werden. Ich streckte mich über der vernarbten Oberfläche aus, um seine Unvollkommenheit zu verdecken, und weinte heiße Tränen der Wut. Meine Fackel verlosch ebenso wie das Licht in meiner Seele. Ich entstieg der Gruft als die Sonne aufging. Indem ich meinen eigenen Stab fest umklammerte, schwor ich bei allen Göttern, dass ich nicht um meinen Platz im Himmel des Westens betrogen würde.

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