Ein letztes Leben

„Dieser Schmerz“, stöhnte Lysander, als er sich nach einem besonders mächtigen Schlag des Eis-Elementares wieder erhob. „Wie kann man solchen Schmerz verspüren und dennoch weiterleben?“ Der Schmerz ließ nun nach und langsam kehrten seine anderen Sinne zurück. Die beißende Kälte, der pfeifende Wind, die Geräusche von zersplitterndem Eis, brennendem Holz und explodierenden Feuerbällen, all das stürzte wieder auf ihn ein und überwältigte ihn fast.
Als er sich wieder seinem Gegner zuwandte, explodierte das Feuer um ihn herum, ein letztes Mal, und als wieder Ruhe einkehrte und der Rauch sich verzogen hatte war da nur noch eine große Pfütze, in der Eisstücke schwammen, wo zuvor die riesige Gestalt aus Eis gestanden hatte.
Mit einem Ausdruck des Triumphs auf seinem Gesicht drehte er sich zu seinen Freunden um, nur um deren entsetzte Blicke auf etwas zu seinen Füßen gerichtet zu sehen. Er blickte herab und sah sich. Er selbst lag dort im geschmolzenen Schnee, verbrannt und blutend, seine Rüstung verbeult, das Schwert neben sich liegend.
Ein Aufschrei der Überraschung entwand sich seiner Kehle als die Umgebung verschwamm und eine starke Kraft ihn talwärts zog. Er kämpfte dagegen an, aber es gab kein Entrinnen.
Bis zum Meer zog es ihn und dann bis auf den Grund, wo schon eine Gestalt wartete, die ihm sehr vertraut war. Ein bärtiger Mann aus dessen Stirn Krebsscheren entsprangen, in seiner Hand einen Anker, um ihn herum dutzende Delfine. „Mein Herr Okeanos“.
„Wie es scheint endet ein weiteres deiner Leben auf gewaltsame Weise.“ Okeanos Stimme erinnerte an ein Blubbern, begleitet von den Klickgeräuschen der Delfine, die auf seltsame Weise seine Worte zu wiederholen schienen, sodass ein Echo entstand, das sich nach mehrfachem Hören in einzelne Klicks auflöste. „Du erinnerst dich an all die anderen?“ „Ja“, kam die Antwort aus Lysanders Mund, sofort und voller Sicherheit, während sich die Erinnerungen in seinem Kopf neu formten, „ich erinnere mich.“
„Dann weiß du sicher, dass das Leben, welches ich dir nun geben werde, dein letztes sein soll?“ „Auch das ist mir bewusst.“ „Und weißt du auch, wer diese Anweisung bei deiner Geburt einst gab?“ „Es ist sehr lange her, aber ich weiß es. Es war mein Vater.“ „Kennst du seinen Namen?“ „Nein.“
„Dann werde ich es dir sagen. Aber zuerst möchte ich dir ein Geschenk machen: Ich möchte, dass du dich in diesem nächsten Leben an all die Leben erinnerst, die du bereits gelebt hast. Ich möchte, dass du aus ihnen lernst und Stärke daraus ziehst. Ich möchte, dass dir bewusst ist, welch verantwortungsvolle Rolle dir zugedacht ist.“ „Ich soll den Sohn Poseidons leiten, sodass er sein Schicksal erfüllen kann?“ „Ja, das ist dein Ziel. Verliere es niemals aus den Augen. Folge dabei stets dem Pfad der Tugend, wenn du kannst, folge ihm nicht, wenn es sein muss, aber verliere niemals dein Ziel aus den Augen.“
„Und nun zu deinem Vater.“
„Wer ist er?“ „Er ist der Gott des Meeres, Poseidon ist auch dein Vater.“
Die Worte hallten noch in seinem Kopf wieder, als er einen tiefen Zug der frischen Bergluft nahm und sich ruckartig aufsetzte. Um ihn herum seine Freunde und über ihm, mit ausgebreiteten Armen, Laokoon. Und vor ihm, in einer klaren Eisfläche, eine Reflektion eines Mannes seiner Statur, mit seinen Gesichtszügen, doch mit vollkommen veränderten Augen: Das Weiß war verschwunden und in ihren Höhlen lagen nun zwei schimmernde Kugeln, schwarzblau wie die tiefste See.
Mit einer Stimme nun tief rauschend wie die Brandung und unausweichlich befehlend wie der Tod des einsamen Schiffbrüchigen auf hoher See, sprach er die einzigen Worte, die ihm jetzt passend erschienen: „So soll es geschehen!“

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