Jareds Träumereien

Jareds Träumereien

Jared saß in seinem komfortablen Zimmer im Falcon’s Aerie, einem der besten Gasthäuser in Aridorn, und ließ seine Gedanken schweifen. Die Ereignisse seit der Ankunft in der Hauptstadt des Rukemischen Reiches waren unerwartet und aufwühlend gewesen. In seinen schlimmsten Alpträumen hätte er sich nicht vorstellen können, freiwillig durch die Kloaken fremder Menschen zu waten. Seine Nase weigerte sich noch immer, angemessen ihren Dienst zu tun, obwohl er mittlerweile ausgiebig gebadet hatte und jedes Stückchen Kleidung, das er bei diesem unschönen Ausflug am Leib gehabt hatte, entsorgen ließ. Wenigstens hatte ihm die Expedition in die lichtlose Unterwelt Aridorns einen kleinen Schatz beschert. Auch wenn das Zauberbuch des Orks nicht besonders umfangreich zu sein schien, war es doch genau die Art von Belohnung, die Jared sich für die Mühen, die er auf sich genommen hatte, erhofft hat. Wissen war der Schlüssel zur Macht. Und magisches Wissen ganz besonders.
Doch seltsamerweise konnte er nicht damit beginnen, die Eintragungen in dem Buch zu entziffern. Etwas, das er nicht fassen konnte, hielt ihn davon ab. Wenn der Gedanke nicht so absurd wäre, würde Jared sagen, dass ein überirdisches, fast allmächtiges Wesen ihm das Wissen vorenthielt. Er war nicht besonders gläubig, aber diese Vorstellung jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Selbstverständlich hielt er sich an die religiösen Riten, wie es in seiner Familie und in seinem Heimatland Brauch war. Auch fremde Religionen zu respektieren war zudem ein Gebot des kleinen diplomatischen Ein-mail-eins. Aber diese Vorstellung ging weit darüber hinaus. Jared malte sich ein Wesen aus, das weit über allen Göttern stand, dessen Macht nahezu unbegrenzt war. Es könnte ihn und jeden anderen auf der Welt mit einem Fingerschnippen töten. Ja, sogar die ganze Welt wäre nur ein Spielball in seinen Händen, den es aus Wut oder Langeweile jederzeit fallen lassen und auslöschen könnte. Wenn solch eine Entität tatsächlich existierte, wäre es logisch, sich um ihre Gunst zu bemühen.
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken.
„Ja, bitte!“
Anton trat ins Zimmer, dicht gefolgt von einem Zimmermädchen, das einen Stapel Wäsche trug.
„Ah, die neuen Hemden“, mutmaßte Jared, was durch ein Nicken des Mädchens bestätigt wurde.
„Räumen Sie sie bitte in den Schrank dort.“
Jared wollte sich wieder dem Buch zuwenden, die Dienstboten in dem Moment, wenn sie ihre Arbeit angemessen erledigten, sofort vergessend. Stattdessen richtete er seinen Blick auf Anton, der mit vor der Brust gefalteten Armen darauf wartete, dass die Magd die Hemden aufräumte, um sie dann wieder aus dem Zimmer zu geleiten. Irritiert stellte Jared fest, dass der loyale Wächter irgendwann mehr geworden war, als ein weiterer Bediensteter, von dem man selbstverständlich erwartete, dass er gehorsam und gewissenhaft seine Aufgabe erfüllte.
Anton hatte ihm mittlerweile mehr als einmal das Leben gerettet. Und trotz des grausamen Todes seines Kameraden Berti zögerte er nie auch nur einen Augenblick, sich zwischen Jared und jedweder Gefahr für dessen Leib und Leben zu stellen. Jared konnte ihn einfach nicht mehr als nur einen weiteren nützlichen, aber austauschbaren Gefolgsmann ansehen. Jared fing an, ein Verantwortungsgefühl für ihn zu empfinden, was ihn ziemlich verunsicherte. Er hatte sogar schon daran gedacht, Anton nach Hause zu schicken. Dass er dies tatsächlich tun würde, so weit gingen diese für einen Prinzen seltsamen Anwandlungen dann doch nicht. Doch Jared musste sich eingestehen, dass ihn die Zeit mit den ungewöhnlichen Reisegefährten veränderte, mehr veränderte, als er sich bisher hatte vorstellen können.
„Braucht ihr noch etwas?“
Antons Frage riss Jared aus seinen Gedanken.
„Nein, danke, Anton. Du kannst gehen. Gib mir nur bitte gleich Bescheid, wenn die anderen aus unserer Reisegruppe aufbrechen wollen.“

Leave a reply

You may use these HTML tags and attributes: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.