Steinklinge (Teil 1b)

Unter der kundigen Führung von Rafu, erreichten Tanner, Krobby und der Waffenhändler Frieder am späten Nachmittag des zweiten Tages seit sie Michelburg verlassen hatten das Dorf Steinklinge. Niedrige, ganz aus Stein errichtete Hütten schmiegten sich an den Südhang eines Berggrates, der dem Ort seinen Namen gab. Eine Wehrmauer hatte einst die Enge des Passes blockiert, aber sie war verfallen und stellenweise ganz eingestürzt. Etliche Männer arbeiteten emsig daran, die Lücken wieder zu füllen.

Es war sonnig und die anstrengende Kletterei hatte die Wanderer in Schwitzen gebracht, aber sie befanden sich weit oberhalb der Baumgrenze und an schattigen Stellen und an den Nordhängen der Berge hielt sich jetzt, Anfang März noch immer Schnee. Zwerge und Menschen, allesamt ihrem Aussehen nach raue, widerstandsfähige Gesellen, bewegten sich zwischen den Hütten. Da es kaum Deckung gab, hatten die Dorfbewohner die Neuankömmlinge schon von weitem bemerkt.

So stürmte ihnen laut rufend eine Frau entgegen. Sie war größer als Tanner, aber nicht so groß wie Rafu. Ihre Haut war etwas weniger grün und ihre Gesichtszüge schienen etwas menschlicher als die des Halb-Orks, aber eine gewisse Familienähnlichkeit ließ sich nicht leugnen. Ihre langen dunklen Haare waren überraschend elegant zu einem Zopf geflochten. Überhaupt wirkte sie zivilisierter und an Gesellschaft gewohnter, als ihr Bruder, und ihr Lachen war geradezu ansteckend. Ihre Kleidung war eleganter und weniger hinterwäldlerisch. Doch ihre Gefühle trug sie offen zur Schau. Mit einer bärenhaften Umklammerung presste sie Tanner die Luft aus dem Körper.

„Schön, dass du da bist, kleiner Bruder!“

„Darf ich vorstellen“, meine der, nachdem er wieder zu Atem kam, „das ist meine Schwester, Adana.“

Nachdem sich alle begrüßt hatten, wollten sie natürlich wissen, was es denn für ein Problem gebe. Adana vertröstete sie aber, bis sie vertraulich reden konnte. In der Hütte von Gombur, einem grauhaarigen Zwerg und Kleriker des Torag, gab es zum einen den in Adanas Brief versprochenen Trunk und endlich auch die Erklärung. Rafu war von der großen, selbstbewussten Frau so beeindruckt, dass er ihr die Zähne der Wyvern zum Geschenk machte.

Die Bewohner von Steinklinge lebten vom Schürfen nach Edelsteinen im Hochgebirge. Seit einigen Monaten verschwanden immer wieder Edelsteinsucher, vor allem diejenigen, die nach Norden aufgebrochen waren. Manche fand man tot, andere blieben verschollen. Bei der Suche nach ihnen stieß man aber immer auf die Spuren genagelter Stiefel. Fährtensucher bestätigten, dass es sich um die Spuren von Hobgoblins handelte. So gewarnt konnte man von einem Aussichtspunkt aus erkennen, dass sich nördlich des Passes eine Armee sammelte. Botschaften, die man an den Lehnsherrn Franz von Silberesche sandte, blieben allesamt unbeantwortet. Darum beschlossen die Bewohner von Steinklinge, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Denn von dem Ort, wo sie in mühsamer Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienten, wollten sie sich nicht vertreiben lassen.

Also gründeten sie eine Miliz und wählten Adana zu ihrer Chefin. Sie zählen zwar nur gut dreißig Kämpfer, aber der Pass ist eng und gut zu verteidigen. Das Gelände nördlich der Mauer bietet keine Deckung und wenn sie fertiggestellt ist, kann man mit genügend Munition auch eine große Übermacht abwehren. Deshalb ließen sie Kilian die große Lieferung an Pfeilen und Bolzen bestellen.

Adana und Gombur machten aber eine erschreckende Feststellung: dass alle die verschwundenen Edelsteinsucher von feindlichen Patrouillen erwischt wurden, konnte kein Zufall sein. Jemand im Dorf musste sie an die Hobgoblins verraten haben. Und dieser Spion konnte den Feinden auch die kaum bekannten Pfade verraten, auf denen man den Pass und damit die Mauer umgehen konnte. Dann wäre das Dorf verloren.

Der Kreis der Verdächtigen konnte schon auf drei eingegrenzt werden. Aber weitere Nachforschungen konnte Adana nicht selbst anstellen, ohne den echten Spion zu warnen, dass sie ihm auf der Spur war, denn die Dörfler waren eine eingeschworene Gemeinschaft, in der jeder jeden eng kannte. Darum brauchte sie Unterstützung durch Außenstehende.

Die drei Verdächtigen waren: Erstens Norbert der Jäger, denn er war der einzige, der regelmäßig alleine herumstreifte, auch nördlich des Passes. Zweitens Gerd, Feldwebel der Miliz, der jede Nacht die mittlere Wache übernahm und darauf bestand, den Posten auf der Mauer allein zu übernehmen. Drittens Kilian, der Händler, der ständig Nachrichten in alle Himmelsrichtungen versandte.

Krobby hätte gerne die Korrespondenz des Händlers gelesen, was aber schwierig war, weil diese in einem Hinterzimmer des Ladens aufbewahrt war und die interessanten Briefe sicher nicht offen herumlagen, sondern in einem verschlossenen Behältnis sein würden. Zwar könnte Krobby sich in ein kleines Tier verwandelt, aber der Weg durch den Kamin war nicht möglich, da die Hütten mit Kanonenöfen beheizt wurden. Die Fenster waren durch Holzläden gesichert. Und um sich durch die Vordertür einzuschleichen, brauchte man irgendeine Ablenkung. Zudem sollte Frieder im Laden übernachten, ehe er am nächsten Morgen wieder aufbrach. Also musste diese Aktion erstmal verschoben werden.

Tanner ließ sich mitten in der Nacht wecken, um Gerd aus einem Versteck heraus zu überwachen. Der Feldwebel besetzte nur seinen Posten auf der Mauer, bis er wieder abgelöst wurde, ansonsten war alles ruhig. Ihn konnte man sicher von der Liste der Verdächtigen streichen.

Eine Stunde vor Sonnenaufgang brach Norbert zur Pirsch auf. In gebührendem Abstand folgte Tanner gemeinsam mit Rafu seiner Spur. Als erfahrener Jäger versetzte sich Tanner in die Gedanken des Verfolgten und war sich sicher, dass der in einem Versteck auf Beute lauern würde. Trotzdem war er überrascht, als Norbert sich plötzlich aus einer Felsmulde erhob und auf seine Verfolger anlegte. Gegenseitig beschuldigten sie sich nun, Spione der Hobgoblins zu sein, und wollten jeweils den anderen beim Ältestenrat des Dorfes anklagen. Da also alle zum Dorf wollten und nach dem ganzen Hin und Her sowieso keine Jagdbeute mehr zu erwarten war, brachen sie im Gänsemarsch auf, Norbert ganz hinten.

Auch wenn Tanner überzeugt war, dass Norbert der Verräter war, brauchte er aber vermutlich handfestere Beweise. Und vor allem sollte jemand mit größerem Verhandlungsgeschick die Anklage vortragen.

Gleichzeitig saß Krobby in der Kälte und beobachtete Kilians Laden. Aber außer Frieder, der sich verabschiedete und auf den Weg machte, gab es nichts zu sehen.

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